Ganzheitliches Lernen

„Freude kommt nicht von allein, sondern kann in vielen Dingen gefunden werden“, so steht es in einem Flugblatt über die HSB/KEF-Klasse am Bundesinstitut für Gehörlosenbildung. Besondere Kinder sollen hier ihren individuellen Bedürfnissen entsprechend optimale Förderung erfahren.

„Guten Morgen, guten Morgen“, erklingt es um acht Uhr morgens zur Melodie von „Bruder Jakob“ durch den Gang. Im Gruppenraum der HSB/KEF-Klasse zupft der Klassenlehrer die Gitarre, der Sitzkreis besteht anfangs aus ihm und der 17-jährigen Ria*. Das zarte Mädchen sitzt im Rollstuhl und zeigt kaum Reaktionen. Nach und nach gesellen sich der achtjährige Fabian, die siebenjährige Lea, Erzieher und Sozialpädagogin dazu. Zwei der Klassenkollegen fehlen heute, sie sind krank. Auch Lea sitzt im Rollstuhl, ihr wacher Blick sucht den Raum ab. 

HSB steht für „hör-seh-behinderte“ Kinder, früher auch „taubblind“. Das beschreibt die Situation der derzeit fünf Schüler nur ungenügend. Sie sind beispielsweise zusätzlich auf einen Rollstuhl angewiesen, haben epileptische Anfälle oder sind stark entwicklungsverzögert. Eben Kinder mit erhöhtem Förderbedarf – KEF.

Prof. Andreas Bussecker und Eva Mehmeti unterrichten die HSB-Klasse im Team-Teaching, immer auch gemeinsam mit einer Sozialpädagogin. Zusätzlich kommen verschiedene Therapeuten stundenweise dazu. Gemeinsam arbeiten sie mit den Schülern an der Entwicklung basaler Fähigkeiten: Hygiene, Essen, etwas greifen und es gezielt bewegen. Abläufe verstehen und einhalten, Regeln erkennen und befolgen und auch die eigene Befindlichkeit ausdrücken.

 Während des Morgenkreises wird Ria immer aktiver – sie mag Musik. Ihr Klassenlehrer legt die Gitarre auf ihren Rollstuhl und trommelt mit den Fingern auf den Klangkörper des Instruments. Trommeln mag Ria heute aber nicht. Sie schiebt die Gitarre mit einer knappen Geste wenige Zentimeter von sich. Ein Erfolg: Ria hat einen Weg gefunden, ihren Willen kund zu tun.

Selbständigkeit erlernen

Musik, turnen, zeichnen und basteln haben auch im Unterricht der HSB/ KEF-Klasse ihren Platz, sonst unterscheiden sich Lehrinhalt und Unterrichtsmethoden deutlich vom Regelunterricht. Das grundlegende Lernziel bleibt aber das gleiche: Schule soll die Heranwachsenden auf ein möglichst selbstständiges und erfolgreiches Leben vorbereiten, ein geglücktes Leben möglich machen. 

Damit auch der Schulalltag als glücklich empfunden wird, braucht es ein gewisses Maß an Sicherheit. Die entsteht unter anderem durch den fixen Tagesablauf. Erst der Morgenkreis, dann die Tagesplanung. Ein Plakat an der Magnetwand zeigt die Fotos aller Pädagogen und Schüler, die heute anwesend sind. Symbolkarten verraten das Tagesprogramm und den Arbeitsschwerpunkt des Tages: Am Montag ist das immer einkaufen, am Dienstag kochen, am Donnerstag steht Wäsche waschen am Programm.

„Um Selbstständigkeit im Alltag zu entwickeln, üben wir prinzipielle Alltagsfähigkeiten und die grundlegenden Prinzipien sozialer Interaktion. Wir nehmen alle  Unterrichtstätigkeiten zum Anlass, um in zwischenmenschlichen Kontakt zu treten“, erklärt die Lehrerin Mehmeti. Die Schüler lernen spielerisch, sich in andere „einzufühlen“, adäquat zu reagieren und die eigenen Bedürfnisse so auszudrücken, dass sie von anderen wahrgenommen werden.

Selbstbestimmung kann sein, die Hand zu führen, die mir hilft.
Selbstbestimmung kann sein, die Hand zu führen, die mir hilft.

Es ist Dienstag, Kochunterricht. Doch die Küchenarbeit kommt heute erst nach der Frühstückspause. Davor wird ein Theaterstück geprobt. Es handelt von schillernden Fischen im Meer – jeder Fisch hat eine Farbe, sagt „bitte“, wenn er eine bunte Schuppe haben möchte, und „danke“, wenn er die dann bekommen hat. Je nach den Fähigkeiten dessen, der den „Fisch“ spielt, ist es ein verbales „danke“, eine Gebärde, oder auch eine einfache Geste. Im Spiel werden die multimodalen Kommunikationsformen umgesetzt, welche die Lehrkräfte gemeinsam mit den Schülern im Laufe der Schulzeit entwickeln: Eine Kombination aus Gebärden, Schrift und Handzeichen, Bildern und Symbolen, bis hin zu GEMIK - einer Mischung aus Gestik, Mimik und Körpersprache.

Spezielle Pädagogik für spezielle Schüler

„Ein Kind fördern, fordern, aber auch warten, bis das Kind bereit ist für den nächsten Schritt, das ist eine Gratwanderung. Dazu braucht es Achtsamkeit und Aufmerksamkeit“, räumen die Pädagogen unisono ein. Herausforderungen, denen sich nicht jeder Pädagoge gewachsen fühlt.

Das Betreuungsteam am BIG stellt gemeinsam mit den Eltern ein Förderkonzept zusammen, das die Kompetenzen jedes einzelnen Kindes fördert. Die Pädagogen verfügen über spezielle Ausbildung und oft langjährige Erfahrung. Das macht sie für die Eltern auch zu wertvollen Ansprechpartnern bei Fragen rund um die Entwicklung und Betreuung ihrer Kinder.

Um auf Stand zu bleiben, besuchen die Pädagogen und das therapeutisches Team auch regelmäßig Weiterbildungen. So haben alle Betreuer der HSB/KEF-Klasse auch eine spezielle Schulung zur Unterstützung basaler Versorgung gemacht. Die ist Voraussetzung, damit die Betreuer bei Bedarf auch einfache Pflegeaufgaben an den Schülern übernehmen dürfen, etwa bei der Inkontinenzversorgung, bei der Verabreichung von Mahlzeiten oder beim WC-Training. Die Verfügbarkeit der medizinischen Versorgung, diverser Therapieangebote und der technischen Betreuung von Hörsystemen gewährleisten ein Netzwerk, das die individuelle Förderung und das Wohlbefinden jedes Kindes unterstützt.

Mittlerweile ist es Zeit für die Pause. An der Garderobe hat jedes Kind seinen eigenen Platz. Dort hängen auch die Schulrucksäcke der Kinder. Pausenpäckchen aus dem Rucksack holen und ab in die Küche! Die Vorfreude steht den Kindern ins Gesicht geschrieben. Während Fabian sogar beim Einschenken des Saftes hilft und selbstständig essen kann, brauchen die anderen Unterstützung. Ria behält als Älteste trotzdem die Kontrolle: Sie führen die Hand ihrer Lehrerin.


* Namen aller Schüler und Schülerinnen geändert!

Gemeinsam durch die Schulzeit begleiten

Wiener Schulkinder mit Hör- und Sehbehinderung finden heute entweder am Bundes-Blindenerziehungsinstitut oder am Bundesinstitut für Gehörlosenbildung BIG spezielle Betreuungsangebote. Schulunterricht für Kinder mit darüber hinaus erhöhtem Förderbedarf wird auch an weiteren Schulen angeboten, bis hin zur Sonderschule für Schwerbehinderte.

Das BIG bietet aktuell ein vielfältiges Angebot an Sonderschul- und Integrationsklassen. Die HSB-Klassen für hör-seh-behinderte Schüler gibt es dort seit 1980, daneben werden auch reine KEF-Klassen für hörbeeinträchtigte Kinder mit zusätzlichen Beeinträchtigungen und erhöhtem Förderbedarf angeboten. für hör-seh-behinderte Schüler am BIG gewannen in den letzten Jahren durch verschiedene Faktoren die HSB/KEF-Klassen, bis hin zur basalen Förderung, an Bedeutung.

In der HSB/KEF-Klasse können die Pädagogen durch den hohen Betreuungsschlüssel, der durch Team-Teaching von zwei Sonderschulpädagogen und Sozialpädagogen in der Kleingruppe entsteht, auf die individuellen Bedürfnisse der Kinder bestmöglich eingehen. Vor einer Einschulung können Eltern oder Angehörige in Absprache mit der Direktion „schnuppern“ kommen, um zu sehen, ob diese HSB-Klasse die richtige Lernumgebung für ihr Kind wäre. Während der Schulzeit helfen Gesprächskreise und Entwicklungseinschätzungen, sogenannte Assessments, herauszufinden, wie die Kompetenz der Schüler optimal gefördert werden kann.

Frühförderung, Kindergarten, Hort und Internat ergänzen das bedarfsorientierte Betreuungsangebot am Standort Maygasse auch für hör-seh-behinderte Kinder mit erhöhtem Förderbedarf. Diverse Therapeuten und technische Unterstützung für Hörsysteme im Haus erleichtern den Alltag der Familien. Die Krankenstation mit ausgebildeten Krankenschwestern macht die Einschulung und Unterbringung sogar von Kindern möglich, die höheren Pflegeaufwands bedürfen – etwa Epileptiker oder sondenernährte Kinder.

 © Eva Kohl 2018

Mit freundlicher Genehmigung des CIA und der Redaktion der Gehört.Gelesen