Ohne Aschenbecher und Ärmelschoner

Reinhard Gruber ist Metropolitan- und Domarchivar zu St. Stephan in Wien. Dem Klischee eines Archivars mit „Aschenbecher als Brille und Ärmelschonern“ entspricht der gebürtige Tiroler mit dem hintergründigen Humor nicht. Seine Aufgabe entspricht dem, was er immer schon machen wollte.

Im ersten Stockwerk des Curhauses zu St. Stephan befindet sich der Schaffensbereich von Reinhard Gruber. Papier ist ein wichtiger Teil seines Lebens. Auf seinem Schreibtisch, der den Raum dominiert, türmen sich Stöße davon. Obenauf liegt der „Tiroler Sonntag“. Regale voller Bene-Ordner reihen sich an der Wand, im Raum dahinter entdeckt man dicke, leinengebundene Buchrücken, denen man das Alter ansieht. Gruber in Jeans und Sportschuhen, mit Drei-Tage-Bart und Stoppelfrisur, hebt sich in seinem leuchtend-gelben Polo von den Büchern ab. Nur die dunkle Hornbrille ist annähernd standesgemäß.

Schnaps, Speck und Katholizismus

„Ich bin in Tirol mit Schnaps, Speck und Katholizismus groß geworden – den Schnaps habe ich mittlerweile weg gelassen“, beschreibt Gruber seine Kindheit in Stams, wo Skigymnasium und –tourismus, sowie das Zisterzienserstift das Leben prägen. Nach Wien kam er das erste Mal mit 12, im Zuge des Katholikentags 1983. Er stand gerade neben dem Wiener Steffl, als die Glocken aller Wiener Kirchen die Teilnehmer begrüßten. Da war ihm klar: „Ich möchte den Schlüssel zu dieser Kirche haben.“

Von Geschichte begeistert war er schon als Kind. „Ich bewundere heute noch die Geduld meines Heimatpfarrers und des Stiftspriors, die meinen Wissensdurst gestillt und unterstützt haben.“ Er kannte sich im Stift so gut aus, dass er als Schuljunge sogar einmal eine Gruppe Theologinnen durch die historischen Gemäuer führen durfte. Das Studium der Theologie und Geschichte führten Gruber nach Innsbruck und schließlich nach Wien, wo er heute zu jenen zählt, die einen Schlüssel für den Stephansdom besitzen. „Oberinntaler haben so einen Sturschädel, dass man Holz darauf spalten kann“, scherzt er.

Ein Unikat hütet Unikate

Als der Tiroler 1995 an den Wiener Dom kam, übte er anfangs vielfältige Tätigkeiten aus - das Amt des Domarchivars gab es noch nicht. Die Verantwortung über das Domarchiv übernahm er offiziell am 1. Jänner 2000. Seither ordnet er akribisches die alten Dokumente und durchsucht sie nach neuen Schätzen. Er sei „der erste, der beste, der schönste und der unfähigste“ - da der einzige Domarchivar zu St. Stephan. „Ich bin ein Unikat“, schmunzelt er.

Das Archiv im Curhaus beherbergt die Matriken und die Chronik von St. Stephan über die Grenzen des heutigen Pfarrgebiets hinaus, das Archiv der (erz-)bischöflichen Cur von St. Stephan und jenes des Kirchenmeisteramtes. Das älteste Dokument, das Gruber hütet, ist ein Sterbebuch aus dem Jahr 1523. „Ein Archiv ist eine Bibliothek aus lauter Unikaten“, erklärt der Fachmann. Es stelle das „Gewissen einer Institution“ dar.

So manches verschollen geglaubte Schriftstück konnte der studierte Historiker in der Zwischenzeit finden und richtig zuordnen. Nur den Taufschein von Pater Wilhelm Janauschek, der im Zuständigkeitsgebiet des Doms geboren wurde und bald selig gesprochen werden soll, ist noch nicht aufgetaucht. „Vielleicht ist das der erste Selige, der nicht getauft wurde“, nimmt´s Gruber mit Humor.

Umgeben von alten Schachteln

Das Archiv im zweiten Stock befindet sich seit zwei Jahren im Umbau. Deswegen musste Gruber als Archivar schon drei Mal alle Dokumente ein- und wieder ausräumen. Mit leicht vorgebeugten Schultern arbeitet er immer noch umgeben von alten Schachteln, deren Inhalt erst einsortiert werden muss. Dazu bleibt aber nur zwischendurch Zeit - einen wesentlichen Anteil seines Arbeitsalltags macht das Beantworten geschichtlich ausgerichteter Anfragen aus.

Das Archiv stellt für Historiker einen Schatz dar, dem man spannende Geheimnisse entlocken kann. So lässt sich mit alten Rechnungen belegen, dass Mozart keineswegs ein Armenbegräbnis hatte oder dass der Vorgänger des Hochaltars in St. Stephan ein wurmstichiger Flügelaltar war. Zurzeit unterstütz Gruber eine Arbeit über die Virgil-Kapelle, die vor Jahren bei den Arbeiten zum U-Bahn-Bau unweit zum heutigen Dom entdeckt wurde.

Gruber tigert sich gern in die Beantwortung historischer Anfragen und schreibt Artikel oder hält Vorträge über neue Erkenntnisse. Den studierten Theologen interessiert das frühere, liturgische Leben im Dom besonders. Aber auch ungeliebte Tätigkeiten, wie die regelmäßigen Einträge in die Chronik, das Einsortieren von Zeitungsartikeln oder das Anlegen von Verzeichnissen gehören zu den Pflichten. Mit der Personalführung habe er dafür keine Probleme: „Der Gruber schafft´s an und der Reinhard macht´s.“

Forschung als Leidenschaft

Meist angefragte Dokumentensammlung sind die Matriken. Früher habe sich jeden Donnerstag eine Gesellschaft von „Hardcore-Genologen“, wie Gruber die leidenschaftlichen Stammbaumforscher scherzhaft nennt, in seinem Büro getroffen. Den ganzen Nachmittag hätten sie stehend diskutiert – zum Setzen hätte der Platz gefehlt. „Ich muss gestehen, dass ich da auch viel gelernt habe.“

In den letzten Jahren habe sich dann ein regelrechter Boom zur Vorfahrenforschung entwickelt. Phasenweise musste er mehr als zwei Drittel seiner Arbeitszeit für das Beantworten diesbezüglicher Anfragen aufwenden. Seit 1. Jänner sind die Matriken digitalisiert und online verfügbar, der Domarchivar kann sich auch wieder anderen Aufgaben widmen. Das erleichtere die Arbeit wesentlich, aber der Historiker kann dadurch auch nicht mehr bei der Interpretation der Daten helfen.

Der Domarchivar hat mit seinen Recherchen im Archiv nicht nur wissenschaftliche Arbeiten unterstützt und an Büchern mitgewirkt. Zwei Kirchenführer über den Stephansdom stammen zur Gänze aus seiner Feder, sowie ein Kinderführer. Manchmal leitet der Kenner des Wiener Doms auch persönlich Spezialführungen durch den Kirchendom, wie im Jänner letzten Jahres für den „Tirolerbund in Wien“, die Vereinigung seiner Tiroler Landsleute in der Bundeshauptstadt.

Bewahren

Gruber fühlt sich in Wien zuhause und möchte heute auch nicht in Tirol leben. Trotzdem legt er durchschnittlich einmal im Monat die über 500 km Entfernung für einen Besuch in Stams zurück, wo er Eltern und Geschwister besucht und zu Mitgliedern der Gemeinde, der Pfarre und des Stifts die Kontakte pflegt. Auf dem Rückweg hat er immer eine große Portion Graukäse mit dabei. Suppen ist der Hobbykoch besonders gern, kann sich aber mit fast allen Geschmacksrichtungen anfreunden, mit einer Ausnahme: „Mehlspeisen oder Süßes mag ich nicht, weil da ist kein Speck dabei.“

Die Dienstwohnung am Stephansplatz hat der Alleinstehende ausgeschlagen. Am Feierabend ist ihm etwas Distanz vom Arbeitsalltag in räumlicher und gedanklicher Hinsicht wichtig. Fotos vom Dom gäbe es in den eigenen Vier-Wänden nicht. „Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich die Turmspitze ganz klein.“ Wenn er in Privatgesprächen mit ‚der Kirche‘ identifiziert wird, wechselt er lieber das Thema – zum Klatsch und Tratsch hätte er erst recht keinen Zugang: „Als Archivar kriegst du alles erst mit, wenn es vorbei ist.“

© Eva Kohl 2016