Man lernt nie aus

Die Aufgaben einer Schuldirektorin sind vielseitig. 

 

Frau Mag. Maria Katharina Strohmayer leitet das Bundesinstitut für Gehörlosenbildung in Wien und ist eine Befürworterin der Integration Hörbeeinträchtigter. Für sie gehören administrative Tätigkeiten und Personalmanagement ebenso zum Arbeitsalltag wie Therapieeinheiten für ihre Schützlinge. Der Arbeitstag dauert oft lange. Als Gehört.Gelesen sie Mitte Mai gegen 17h telefonisch erreicht, ist die vielbeschäftigte Pädagogin gerade am Weg zum Bahnhof, um die Rückreise von einer internationalen Fachtagung anzutreten.

 

Frau Mag. Strohmayer, das BIG ist eine sehr langjährige Bildungseinrichtung mit wechselnder Geschichte. Wann haben Sie die Leitung dieser Institution übernommen?

 

Vor 13 Jahren. Damals  gab es 1 Klasse Präventive Integration und 1 integrativ geführte Klasse in der Expositur, aber es gab keine Folgeklassen und auch keine Partnerschulen in diesem Sinn. Es hat auch schon ambulante Frühförderung gegeben. Wir haben dann die mobile Frühförderung (Anm. d. Red.: Frühförderin kommt zum Kind nach Hause) eingeführt. Das hat den Aufschwung gebracht.

 

Am Bereich des BIG war der erste Schritt eine neue Integrationsklasse. Dann folgte die Kooperation mit der ersten Partnerschule – in der Direktorin dort hatte ich eine Partnerin gefunden, die das mit aufgebaut hat.

 

Wir haben auch den Kontakt zu den Kliniken gesucht, zum AKH Wien, um dort zu zeigen, dass wir offen sind, neue Wege gehen und die Integration mit hörbeeinträchtigten Kindern aufbauen. Integration hörbeeinträchtigter Kinder in der Hörgeschädigtenintegrationsklasse, das bedeutet für die Kinder, Peergroups für die Identitätsfindung zur Verfügung zu haben – das ist schon wichtig.

 

In diesen 13 Jahren seit Sie die Schule leiten hat sich ja auch im CI-Bereich sehr vieles verändert.

 

Anfangs hatten wir schon auch einzelne Kinder, die implantiert waren. Aber es waren nur wenige solche Kinder an der Schule, viele davon haben den Prozessor im Unterricht nicht getragen. Das Bewusstsein war damals noch nicht da – auch bei den Lehrkräften nicht. Es war auch noch nicht so, dass die Eltern, die sich für ihre Kinder die Implantation wünschten, die Integration so sehr suchen – da hat sich viel geändert.

 

Jetzt beginnen wir im Kindergarten schon mit Integrationsgruppen. Aber wir bieten auch hörgerichtete und bilinguale (Anm. d. Red.: auditive Kommunikation und Gebärde) Gruppen an. Die hörgerichtete und die bilinguale Ausrichtung werden bei uns in getrennten Gruppen angeboten, weil wir sonst die Kinder in der jeweiligen Richtung nicht entsprechend fördern können.

 

Die engagierte Pädagogin erzählt lebhaft vom Werden und Wachsen „ihrer“ Schule. Voll Überzeugung legt sie das Werden eines zukunftsweisenden Konzepts dar:

 

Vor 11 Jahren wurde eine Zukunftskonferenz am BIG veranstaltet mit der Beteiligung von betroffenen Familien, Vertretern der Vereine, Leuten vom Schulamt und der Politik, aber auch Pädagogen und Lehrkräften unserer Institution. Der wichtigste Beschluss auf dieser Zukunftskonferenz war es, dass am BIG eine Methodenvielfalt angeboten werden soll und dass die Eltern die freie Wahl haben. Wir als Lehrkräfte und Fachleute haben im Entscheidungsprozess natürlich eine beratende Funktion, aber letztlich entscheiden die Eltern, welche Methode der Erziehung und Ausbildung sie für Ihr Kind wählen.

 

Sie benützen immer wieder den Begriff „hörgerichtet“. Bedeutet das anders ausgedrückt das Weglassen von Gebärde, oder wie muss man sich das vorstellen?

 

Die hörgerichtete Methode basiert auf drei Säulen: Das eine ist die Hörerziehung bzw. das Hörtraining. Von Hörtraining spricht man bei jemandem, der schon gehört hat, von Hörerziehung, wenn das Hören erst angebahnt werden muss. Der zweite Punkt ist die rhythmisch-musikalische Erziehung und dann als drittes die Gesprächserziehung.

 

Man kann sich Hörerziehung so vorstellen, dass der Pädagoge sehr prosodisch sprechen muss. Mag. Strohmayer bringt ein Beispiel: Wo ist das Auto? Das „wo“ wird im Beispiel betont und klingt fast ein wenig melodisch, aber noch natürlich. Beim Zuhören kann man sich vorstellen, dass man diese Sprechweise nicht aus Schulbüchern und Theorievorträgen erlernen kann, sondern in der Ausbildung praktisch üben muss.

 

Wie umfangreich und wann man diese Methoden einsetzt, hängt davon ab, in welcher Gruppe und welcher Altersstufe man arbeitet. Im Kindergarten kann sich das in manchen Gruppen auf den Alltag beziehen, in der Volksschule wird die Lehrkraft diese Methode gezielt dann einsetzen, wenn die Kinder etwas nicht verstanden haben.

 

Hörerziehung findet den ganzen Tag statt: im sprachlichen Auf- und Ausbau und in der Gesprächserziehung. Auch Rollenspiele kommen zum Einsatz. Das macht man natürlich auch im normalen Unterricht, aber beim hörgerichteten Unterricht werden diese Methoden bewusst verstärkt eingesetzt.

 

In Österreich ist Implantation faktisch allen gehörlosen Kindern zugängig und es gibt so viele Möglichkeiten zur Integration, auch am BIG – braucht es da die Kleingruppen an der Gehörlosenschule überhaupt noch? Oder gibt es eine Mindestanforderung an die Betroffenen, damit eine sinnvolle Integration möglich ist.

 

Das kann man so nicht sagen, das kann nur individuell entschieden werden.

 

Es gibt Kinder, die in der Gruppe untergehen, sei es von der Psyche her, oder weil bei ihnen Hörprobleme so spät entdeckt wurden.  Wenn bei uns am Institut ein Kind in der Integration nicht gut zu Recht kommt, dann hat es die Möglichkeit mit dem Einverständnis der Eltern in die Kleingruppe zu wechseln. Und natürlich auch umgekehrt, wenn das Kind einen Entwicklungssprung macht, kann es in die Integration wechseln. Da geht es nicht nur um die Sprache. Wir haben Kinder, die die vielen anderen Kinder in der Gruppe nicht aushalten, das ist zum Beispiel bei traumatisierten Kindern oft so. Hier ist die Kleingruppe oft günstig, weil sie dort viel besser aufgefangen werden.

 

Wir haben auch viele Kinder in der Volksschule in der Kleingruppe, die dann in der Mittelschule in die Integrationklasse mit hörenden Kindern wechseln. Aber wir eröffnen auch jedes Jahr in der Mittelschule eine Integrationsklasse mit Kindern, die alle mit guten Noten aus der Einzelintegration anderer Schulen kommen. Die Eltern argumentieren den Schulwechsel oft damit, dass die Kinder in der Einzelintegration nicht ihrem tatsächlichen Können adäquat beurteilt würden, obwohl sie sehr gute Noten haben, aber die Kinder sagen: „Ich habe in der Klasse nur einen oder gar keinen Freund.“ Die Kinder sind da sehr ehrlich.

 

Von den Gehörlosenschulen international hört man fallweise die Klage, dass verstärkt mehrfach behinderte Kinder oder Kinder mit anderen als Hörproblemen im eigentlichen Sinn bei ihnen eingeschult werden. Das sei eine Folge der veränderten Integrationspolitik, die auf Sonderschulen gerne verzichten wolle. Stellt die Gehörlosenschule ein Auslaufmodell dar?

 

Auch wir haben Klassen mit mehrfach behinderten Kindern. Zurzeit sind es 5 Klassen mit lernschwachen und mehrfachbehinderten SchülerInnen bei insgesamt 31 Klassen am BIG. Die überwiegende Mehrzahl unserer Schüler sind intelligente Kinder mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Wissen Sie, die Leute sehen immer nur die Hörschwächen, aber sie machen sich keine Gedanken, was das für den betroffenen Menschen konkret bedeutet. Er braucht beim Heranwachsen ja auch die Gruppe zur Identitätsfindung. Die Mehrzahl der Kinder kommt zu uns, damit sie mit anderen hörbeeinträchtigten Kindern zusammen sein können und trotzdem die Bildung und den Standard einer guten Schulausbildung haben können. Und dann gibt es auch Eltern, die sich für unsere Einrichtung entschieden haben, weil sie die Vorteile für ihr Kind sehen. Die nehmen auch einen Schulwechsel in Kauf und manche sogar einen Wohnungswechsel!

 

Welche aktuellen Herausforderungen für die Hörgeschädigtenpädagogik sehen sie?

 

Eine Herausforderung für unsere Kinder ist immer noch die Nahtstelle Schule – Beruf/Lehrstelle. Für die CI-Kinder ist das vielleicht nicht ganz so schwierig wie für manche andere unserer Schüler. Aber die Jugendarbeitslosigkeit in Europa ist bedenklich und für die Jugendarbeitslosigkeit von Hörbeeinträchtigten habe ich erst gar keine Zahlen gefunden.  Da müssen einerseits neue Berufsfelder für diese Kinder aufgebaut werden. Andererseits müssen wir schauen, wie Jugendliche die eine qualifizierte Ausbildung haben, damit auch einen Job bekommen. Wenn wir über die Grenze schauen zum Beispiel nach München oder in andere Großstädte, dort gibt es Ausbildungszentren, die viel mehr und vielfältige Berufsausbildungen für Hörbeeinträchtigte anbieten. Mag sein, dass man in größeren Städten als Wien da auch andere Möglichkeiten aufbauen kann. Aber es wäre ja eine Chance, wenn ein Jugendlicher dort eine solche Ausbildung antreten möchte, dass er dann zumindest finanziell unterstützt wird.

 

Und worauf sind sie persönlich besonders stolz?

 

Kurz wird es still am anderen Ende der Leitung, dann protestiert die Direktorin: Ich finde, stolz ist da wirklich nicht das richtige Wort! Dann ergänzt sie fast heiter: Ich bin sehr froh, dass die Kinder sich wohlfühlen. Die gehen gerne in die Schule, wissen sie! Wir sind nicht für alle die richtige Schule, aber der größte Teil unserer Schüler fühlt sich sehr wohl bei uns. Und das ist wirklich etwas sehr schönes!

 

Wir danken für das Gespräch und wünschen eine gute Heimreise!

Autor: Eva Kohl, © Gehört.Gelesen 2014

Mit freundlicher Genehmigung des CIA und der Redaktion der Gehört.Gelesen