Das Leben lieben lernen

Manche Bücher sollte man zu einem bestimmten Zeitpunkt lesen: in einer begrenzten Epoche der Geschichte oder in einem bestimmten Alter und Entwicklungsabschnitt. Hermann Hesse schafft mit „Siddhartha“ einen überraschenden Perspektivenwechsel.

 

„Ungeduld des Herzens“, eines der Hauptwerke des von mir hochverehrten Stefan Zweig gehört wohl zu jenen Romanen, bei denen Gedanken und Verhalten der Hauptfigur, ein Schwanken zwischen Wehleid, Mitleid und Selbstmitleid, für einen halbwegs gereiften Menschen unserer aktuellen Gesellschaft schwer nachvollziehbar sind, auch wenn die Thematik selbst für uns und heute aktueller ist denn je: der Umgang mit Menschen mit Beeinträchtigungen.

 

Zweig zeichnet für vielfältige Literatur verantwortlich. Speziell seine Legenden sind für jüngere Leser gut geeignet, auch wenn der Hintergrund der mythologisch anmutenden Erzählungen mit dem Zweiten Weltkrieg und der geschichtlichen Entwicklung des jüdischen Volks von ihnen noch nicht immer voll erfasst werden. Doch leider gibt es die Legenden Zweigs noch nicht als Hörbuch, andere Werke wie die historische Miniatur „Amerigo“ entsprechen kaum dem Zeitgeist und eben „Ungeduld des Herzens“ ist zusätzlich auch noch ziemlich umfangreich.

 

Neben Stefan Zweig und Thomas Mann ist Hermann Hesse einer der meist gelesenen deutschsprachigen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Auch er ist besonders durch zwei umfangreiche Romane bekannt: „Der Steppenwolf“ und „Das Glasperlenspiel“, für das er 1946 sogar den Literaturnobelpreis erhielt. In seinem späten Gedicht „Stufen“ schreibt er: „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben.“

 

Für Hermann Hesse selbst lag dieser Anfang am 2. Juli 1877 in Calwn im Schwarzwald, im Schoße einer Familie aus Missionaren, Predigern und Theologen. Hesse selbst ist die Theologie, wie er sie im Umfeld des Pietismus vor dem Ersten Weltkrieg kennen lernt, viel zu eng. Er revoltiert und setzt durch, seinen eigenen Weg zu suchen – mit entsprechenden Erfolgen und Misserfolgen. In einer größeren Lebenskrise lernt er auch die Psychoanalyse von Carl Gustav Jung und dessen Mitarbeiter Josef Bernhard Lang kennen und schätzen. Beide haben ihn über lange Epochen seines Lebens als Therapeuten und Freunde begleitet und ihre Arbeit hat Hesses Werk ebenso geprägt, wie die Arbeit Sigmund Freuds das Werk von Stefan Zweig geprägt hat.

 

Kontakt mit der asiatischer Denkweise und Religion hat Herman Hesse schon sehr früh über die Missionstätigkeit seines Großvaters und seiner Eltern in Indien. 1911 bricht er gemeinsam mit einem Freund auf, um im Zuge einer Ostasienreise nach Indonesien und China auch Indien zu besuchen, doch sein persönlicher Eindruck ist eher unangenehm, von Hitze und Schmutz geprägt. 1919 schreibt er in einem Brief: „Ich bin seit vielen Jahren davon überzeugt, dass der europäische Geist im Niedergang steht und der Heimkehr zu seinen asiatischen Quellen bedarf. Ich habe jahrelang Buddha verehrt und indische Literatur schon seit meiner frühesten Jugend gelesen. Später kamen mir Lao Tse und die andern Chinesen näher. Zu diesen Gedanken und Studien war meine indische Reise bloß eine kleine Beigabe und Illustration.“[1]

 

Doch wenig später in den Jaren 1919-1922 verarbeitet er seine Eindrücke – gepaart mit den Erfahrungen der Psychoanalyse – in der Figur von „Siddhartha“.

 

„Im Schatten des Hauses, in der Sonne des Flussufers bei den Booten, im Schatten des Salwaldes, im Schatten des Feigenbaumes wuchs Siddhartha auf, der schöne Sohn des Bahmanen, der junge Falke, zusammen mit Govinda, seinem Freunde, dem Brahmanensohn.“ So beginnt die Erzählung, die in einer etwas ungewöhnlichen Sprache die Geschichte eines gut ausgebildeten, offenbar als vielversprechend eingeschätzten Jünglings aus der obersten Kaste Indiens erzählt, dessen oberste Aufgabe von alters her es wäre, ein Priester und Gelehrter zu werden. Doch Siddhartha empfindet die Lehren seiner Eltern und Lehrer nicht als befriedigend und macht sich auf die Suche nach tieferer, umfassenderer Weisheit. Siddhartha macht sich auf die Suche nach dem Leben und dem eigenen Sein. Als ich das Buch im Alter von fünfzehn Jahren zum ersten Mal in die Hand nahm, war ich nach wenigen Seiten restlos begeistert, konnte ich mich in meiner pupertären Suche nach meiner eigenen Persönlichkeit und meinem individuellen Lebensziel in dieser Schrift doch gut wiederfinden. Um so erstaunter war ich, mich und meine persönliche Suche heute – gut dreißig Jahre später – abermals in diesem Text zu erkennen, bloß ein paar Seiten weiter, als Siddhartha schon auf halber Strecke zur Weisheit versucht, seinen Sohn zu erziehen und erkennt, nicht verhindern zu können, dass dieser nichts von der Weisheit des Vaters annehmen will, seinen eigenen Weg gehen und seine eigenen Fehler machen möchte. Siddhartha durchlebt auf seiner Suche nach dem Sinn des Lebens alle Phasen von der Askese bis zum Lebemann. Immer geht er mit offenen Augen durchs Leben, begierig alles Neue aufzunehmen, doch immer auch skeptisch gegenüber allen Ideologien und Patentrezepten. Und immer hat er nach einer gewissen Zeit das Gefühl, dass es doch noch „mehr“ geben müsse. Kindermenschen nennt er jene, die unreflektiert und ohne Tiefe mit einem von der Gesellschaft vorgefertigten Leben zufrieden sind. Seine Verachtung ihnen gegenüber weicht zunehmend dem Respekt, ja fast der Liebe zu allen Kreaturen, die oft auch bar jeder Bildung einen Weg gefunden haben, das Auf und Ab des Lebens anzunehmen.

 

Hermann Hesse fand zwar durchaus zu Lebzeiten Anerkennung, doch zu einer weltweiten Verbreitung seiner Werke und beinahe einem Hype im deutschsprachigen Raum kam es erst nach dem Tod des Dichters. Ausgelöst wurde diese Entwicklung in den USA während des Vietnamkrieges, wo er zu einer Identifikationsfigur der pazifistischen Jugendbewegung wurde. Zusätzlich führte die zunehmende Popularität asiatischen Gedankengutes, das man ja auch in Hesses Werken vielfach findet, auch in vielen anderen Ländern zu einer Renaissance dieses Autors. ‚Hesses Ansporn zu einem selbstbestimmten Leben im Widerstand gegen obrigkeitshörige Anpassung und ideologische Patentrezepte erklärt seine Anziehungskraft auf immer neue Generationen.‘[2]

 

So schließe ich mit einem der vielen Aphorismen, die uns Hesse hinterlassen hat:

 

„Die Welt zu durchschauen, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können.“

 



[1] https://www.hermann-hesse.de 4.1.2016 12:10

[2] https://www.hermann-hesse.de/literatur 4.1.2016 13:35

 

Autor: Eva Kohl, © Gehört.Gelesen 2016

Mit freundlicher Genehmigung des CIA und der Redaktion der Gehört.Gelesen

 


Hörbuch

Ungekürztes Hörbuch bei Hörverlag

als Audio-CD ISBN-13: 978-3867172974

oder als Audio-Downlaod ASIN: B002TVXWG2

 

Ein Hörspiel ist beim gleichen Verlag in Produktion, dürfte aber für das Hörtraining mangels Möglichkeit zum Mitlesen weniger geeignet sein.

 

Druckausgaben - unter anderen:

Suhrkampverlag ISBN-13: 978-3518366820

CreateSpace Independent Publishing Platform ISBN-13: 978-1511667234

 

E-Book:

Kindl-Edition Suhrkamp-Verlag ASIN: B006M92FJC

 

Online-Text:

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