Neugierig - auf was?

Fünf ist ein spannendes Alter: Man ist irgendwie schon fast erwachsen, bloß dass es die anderen noch nicht wirklich wissen.

Nur wenn es um´s Aufräumen geht, weiß Tante Helli immer, dass Max das schon kann: Tisch abräumen, Spielsachen wegräumen, Besteck abtrocknen und wegräumen. Dabei ist ausräumen viel spannender als wegräumen.

Wenn Max sich unbeobachtet fühlt, schaut er am liebsten in die Schränke und Truhen. Er räumt aus, was sich dort alles versteckt.

Letztens hat er ganz hinten in der Kredenz einen alten Briefumschlag gefunden. Ein dicht beschriebenes Blatt steckte in dem gelblichen Kuvert. Lesen kann Max ja noch nicht, aber leidenschaftlich neugierig ist er doch. So hat Max lange hin und her überlegt, wie er herausfinden kann, was das wohl für ein Brief sein könnte. Diese blassen Buchstaben auf dem vergilbten Papier, was die wohl bedeuten?

Tante Helli konnte lesen - das war sicher. Er konnte sie fragen. Aber was, wenn sie ihn fragen würde, wo er den Brief her hatte? Sicher war es nicht recht, in der Kredenz nach Schätzen zu suchen?

Doch seine Neugierde war doch zu groß: Max nahm seinen ganzen Mut zusammen. Den Brief in der Hand wartete er, bis seine Tante aus der Waschküche zurück kam. Ganz rot waren ihre Hände noch von der heißen Lauge. Max klang fast schüchtern, als er fragte, was auf dem Brief da stand. Erst hob Tante Helli nur ganz flüchtig ihren Blick, dann blieb sie starr stehen. Wie versteinert. Ihre Wangen nahmen die gleiche Farbe an wie ihre Hände. Höchste Warnstufe - das wußte Max aus Erfahrung. Bloß: Wo untertauchen, woTante Helli doch zwischen ihm und der rettenden Tür nach draußen stand?!

"Ach das, das alte Ding", hörte Max die Tante sagen. Ihre Stimme klang irgendwie fremd, belegt - als hätte sie einen Frosch im Hals. Sie räusperte sich kurz. Immer noch mit unsicherer Stimme, wie beiläufig, fügte sie hinzu: "Bring doch ´mal rasch die Kluppen in die Waschküche, du bist ja schon groß - du weißt ja wo sie hingehören." Als Max mit dem Kluppenkorb aus der Tür huschte, hatte er den Eindruck als würde seine alte Tante hinter ihm auf die Eckbank sinken.

Wenige Minuten später kam Max zurück. Seine Tante stand tief gebeugt über dem Wäschestoß im Korb, als hätte sie nie anderswo gestanden. Das gelbliche Kuvert war verschwunden - nicht in ihren Händen, nicht auf dem Tisch, auch nicht auf seinem alten Platz ganz hinten in der Kredenz.

Manchmal versteht Max seine Tante nicht. An jenem Tag beschloss Max, dass es an der Zeit war, selbst lesen zu lernen.

© Eva Kohl 2017