Maulbeeren

Moderichtungen haben viele Ursachen

Ich liebe Maulbeeren. Seit meiner Jugend liebe ich Maulbeeren. Seit ich entdeckte, dass diese riesigen Bäume süße Früchte tragen, die man zu Marmelade oder Saft verarbeiten kann, als Kuchenbelag verwenden oder einfach frisch vom Baum essen, seither liebe ich Maulbeeren. Weil Maulbeeren in meiner Generation kaum bekannt sind, empfinde ich unsere Bekanntschaft wie einen geheimen Schatz und weil ich Geheimnisse mag, liebe ich auch Maulbeeren. Weil man die Maulbeere quasi überall findet und sie niemandem und damit uns allen gehören, wurde sie mir ein Begriff für Freiheit und Unabhängigkeit, für das Glück der Besitzlosen – und dafür liebe ich die Maulbeeren. Die Blätter der Maulbeere kann man zu heilsamen Tees verarbeiten, also Medizin aus der Natur, zu hundert Prozent Bio – und dafür liebe ich die Maulbeere. Sind die Früchte der Maulbeere einmal saftig, süß und reif, so sind sie auch sehr empfindlich und verderben rasch und weil man sie nicht lagern kann, gibt es sie auch in keinem Geschäft zu kaufen, sondern nur frisch vom Baum und daher gratis. Deswegen war die Maulbeere für mich immer ein Zeichen gegen das Establishment, den Kommerz und Konsumzwang und für den Lohn der Arbeit und Eigeninitiative – und dafür liebe ich die Maulbeere. Mit wenigen Worten zusammengefasst: Ich mag Maulbeeren einfach.

 

Kaum nannte ich einen Garten mein Zuhause, so war ich schon auf der Suche nach einem passenden Maulbeerbaum. Sobald er gepflanzt war, bestaunte ich den jungen Baum, freute mich an seinem Wuchs und wartete sehnsüchtig auf die ersten Früchte, die natürlich einige Jahre auf sich warten ließen. Doch leider ging im Laufe dieser Jahre vieles zu Bruch: Beziehungen und mein Zuhause. Nur der Baum ging nicht zu Bruch und steht heute noch als Schattenspender an seinem Platz. Ob meine Nachfolgerin die Früchte der Maulbeere und des Wartens genoss oder sich nur über den Schmutz ärgerte, den die überreifen Früchte beim Herabfallen verursachen, das weiß ich nicht und werde es nie wissen. Ich habe meine Maulbeere vermisst.

 

Ein Leben zerbricht, während ein anderes gezeugt wird; zerbricht ein Zuhause, so baut man ein neues Heim. Ich erstand einen Kleingarten und verwandelte das Gartenzwerge-Reich in ein verwunschenes Paradies. Verliert man einen Baum, so pflanzt man einen neuen: Die Krönung meines kleinen Gartens bildet nun ein großer Maulbeerbaum umringt von kleineren Bäumen und Sträuchern. Mächtig steht er da, streckt seine Zweige überall hin und gewinnt nach und nach die Konkurrenz gegen Birne, Weichsel und Kriecherl , gegen Sanddorn, Brombeere und sogar gegen den kräftigen Holler. Den ganzen Sommer über zieren tiefrote Finger meine Hände, gefärbt vom Saft der reifen Beeren unseres Maulbeerbaums – denn das ist die Schattenseite des Genusses: Die reifen Maulbeeren geben von ihrem roten Saft ab und der färbt alles, was sie berühren - den Boden, auf den sie fallen; die Finger, die sie greifen; das Geschirr, in das man sie legt und gegebenenfalls auch das Kleidungsstück, das irrtümlich mit ihnen in Berührung kommt. Also ist pflegeleichte Arbeitskleidung ein Muss, denn es gibt kaum einen Weg, die roten Flecken wieder zu entfernen. Da helfen weder Wasser noch Seife, so fest haftet die Farbe der Freiheit und des Überlebens an.

 

Meine Maulbeere ist mittlerweile ein großer und mächtiger Baum, sodass ich ihre Früchte nur mehr erreiche, wo sie sie freiwillig abgibt und in tiefrotem, saftigen Zustand für mich fallen lässt. Also freue ich mich jedes Mal, wenn ich unterwegs einen fremden Maulbeerbaum finde, der wie in alten Zeiten niemandem gehört, und damit uns allen. Früchte, die man wie ein himmlisches Geschenk erntet, ohne sie gesät zu haben, schmecken sowieso am besten.

 

Letztens hatte ich einen wichtigen Termin. Dazu hatte ich mich schick gemacht, mit heller Hose und Sakko, denn ich wollte einen guten Eindruck erwecken. Den Weg zum Treffpunkt säumten einige Maulbeerbäume und –sträucher. Ein Baum war so hoch, dass ich die untersten Zweige kaum erreichen konnte. Ein Strauch stand im Schatten, sodass die Früchte noch unreif waren. Ein anderer Strauch an einer stark begangenen Kreuzung war schon abgeerntet von anderen Kennern der Frucht. Endlich entdeckte ich einen großen Strauch mit tiefschwarzen, reifen Beeren. Der Wind fuhr durch die Krone und wiegte die Zweige mit ihrem dunklen Behang. Ich legte meine Habseligkeiten auf der anderen Seite des Weges ab, denn unter dem Baum war der Boden vom überreifen Fallobst bedeckt, das geplatzt war und den Saft auf dem Gehsteig verteilt hatte. Ganz vorsichtig brockte ich die ersten Früchte und gab dabei Acht auf meine helle Hose. Ich wagte mich langsam etwas näher hinzu, pflückte und genoss in vollen Zügen. Als ich mich an der Süße des Sommers satt gegessen hatte, zog ich mich zufrieden zurück: Zum Glück war meine helle Hose -das neue, teure Beinkleid- unbefleckt geblieben. Nur meine roten, klebrigen Finger verrieten den Mundraub an der Natur. Ich ging auf die andere Straßenseite und nahm meine Habeseligkeiten wieder auf, um den Weg fortzusetzen. Wie zum Abschied fuhr der Wind nochmals durch die Zweige des Maulbeerbaums. Auf einem weit überhängenden Ast löste sich eine Frucht, traf meinen Oberarm, zerplatzte dort und verspritze ihren Saft über mein T-Shirt und die neue, helle Hose.

 

Weil ich Maulbeeren liebe, liebe ich seit neuestem Dark Wave und Indie.

© Eva Kohl 2015