Lasciate mi cantare - Lass mich singen

Italien Mitte der Achtzigerjahre des vorigen Jahrhunderts. Im Lande tobt der Krieg und ganz Europa sieht gespannt zu. Der vielleicht erfolgreichsten Exportartikel der Papagalli nach Pizza und Spagetti, die „cosa nostra“ hat es international geschafft, sich einen gleichermaßen gefürchteten wie berüchtigten Namen zu machen. Sogar im fernen Amerika hat die „Ehrenwerte Gesellschaft“ erfolgreich Fuß gefasst und sich unter ihresgleichen gehörig Respekt zu verschaffen gewusst. Aber ausgerechnet in ihrer sizilianischen Heimat hat der knapp vierzigjährige Jurist Giovanni Falcone sich in den Kopf gesetzt, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen und hat so der Mafia den Kampf angesagt.

Als der Sizilianer Ende der Siebziger als oberster Staatsanwalt in seine Heimatstadt zurückgekommen war, hatte er auf schockierende Zustände angetroffen. Die „Familie“ hatte hier alle Bereiche wie ein heimtückischer Pilz durchsetzt. Überall hatte sie ihre Machenschaften. Komplizen und Nutznießer in Bauindustrie und Behördenapparat, selbst in der Lokalpolitik profitierten von diesen Zuständen. Die Polizei aber schaute tatenlos zu. Wer nicht selbst auf der Lohnliste stand, übte sich in Ignoranz oder Lethargie, oder versuchte in blanker Angst sein Leben und das der Seinen zu schützen, indem er nicht sah, was er nicht zu sehen hatte. Und so mancher ließ sich seine Sicherheit etwas kosten – Schutzgelder waren üblich. Falcone aber postuliert: “Die cosa nostra ist nicht unbesiegbar. Sie ist eine von Menschen aufgebaute Struktur, und wie alles, was von Menschen gemacht ist, hatte sei einen Anfang und wird auch ein Ende haben.” Mit seinem Freud, Vertrauten und Kollegen Paolo Borsellino gemeinsam begründet er eine Sonderkommission und eröffnete so den Kampf. Als auch noch zwischen zwei Mafia-Familien bewaffnete Fehden ausbrechen, entwickelt sich sogar eine blutiger zweite Front.

Und nun tobt der Krieg. Ehrliche, rechtschaffene Bürger, Juristen und Kriminalbeamte, werden auf offener Straße brutal niedergeschossen. Sprengstoffanschläge zerfetzen die Stille des Nachmittags. Am helllichten Tag, mitten in belebten Stadtvierteln fallen Schüsse. Menschen sterben, Polizisten wie Mafiosi. Immer häufiger fließt Blut und hinterlässt seine anklagenden, tiefroten Spuren im Inselsand. Palermo gleicht immer öfter der Kulisse zu „High Noon“. Jederzeit und jederorts kann jeder hautnah die Macht der Mafia erleben – viel zu hautnah. Giovanni Falcone und sein Freund Paolo Borsellino stehen in Palermo im Zentrum des Kampfgeschehens auf der Insel Sizlien.

Auch in einem Vorort von Réggio di Calábria, knapp 10km von der Küste Siziliens entfernt, werfen sich Giovanni, genannt Gino, und sein Freund Paolo gerade in den Kampf – wenngleich ein anderer Kampf und ein anderer Gino. In knapp einer Stunde soll der Regionalzug aus Rom ankommen, und mit ihm etwa dreißig Wiener Jugendliche, welche die nächsten vier Ferienwochen am Sandstrand Kalabriens am hiesigen Campingplatz verbringen möchten. Eigentlich sind ja eher die Gebiete der nördlichen Ostküste Italiens als Urlaubsrefugien der Österreicher bekannt – Jesolo und Lignano werden von Touristen regelmäßig überschwemmt und Venedig versinkt regelrecht unter seinen Besuchern. Den jungen Leuten aber macht die deutlich längere Anreise nichts aus, und die viel niedrigeren Preise an der Zehenspitze des italienischen Stiefels kommen ihnen sehr gelegen. Paolo schwingt sich auf sein Moped. Seinen Eltern gehört die Tratoria vis a vis des Zeltplatzes, und der Siebzehnjährige wurde losgeschickt, Vorräte nachzukaufen. Mama erwartet des Abends einen großen Teil der Jugendlichen in ihren Räumlichkeiten. Hier können sie den aufmerksamen Augen der erwachsenen Begleiter entkommen und ihre pubertären Rangkämpfe ungestört austragen, sehr zur Freude der Italienerin, hört sie doch schon die Lira in der Kassa klingeln.

Gino ist Ferialpraktikant am Campingplatz und als solcher für den Komfort der Gäste verantwortlich, von der Eis- und Getränke-gefüllten Kühltruhe bis zu den Sanitäranlagen. Er kontrolliert nochmals Wasserzufuhr und Kanalabfluss, sollen sie doch wenigsten dem ersten Ansturm nach der langen Bahnfahrt standhalten. Bleibt nur zu hoffen, dass da nicht wieder so dumme Gören dabei sind, wie letztes Jahr. Damals hatte sich eine deutsche Urlauberfamilie bis zu ihnen in den Süden verirrt. Die Töchter des Hauses, 11 und 13 Jahre alt, haben ihn nicht nur während der Dienstzeit genervt, weil er für sie ständig Eis oder kalte Cola aus der Kühlbox holen musste. Wenn er dann endlich Feierabend hatte, haben sich die beiden auch noch permanent an seine Fersen geheftet und den „italienischen Gigolo“, für den sie ihn hielten, bekniet, er möge ihnen doch Italienisch beibringen. Wenn die 30 Teenager aus Österreich auch so anstrengend sein würden, dann würde er den capo doch nochmals bezüglich einer Prämie ansprechen.

 

Natürlich hat der Zug Verspätung und schließlich muss ja auch die Distanz vom Bahnhof bis zum Camping überwunden werden. Etwa zwei Stunden später als geplant treffen die Jugendlichen endlich ein. Gino steht etwas abseits und beobachtet die Gruppe. Verschwitzt und müde sehen sie aus, stellt er fest. Aber alle sind etwa in seinem Alter, so zwischen fünfzehn und zwanzig, zwei oder drei Erwachsene sind dabei, die dürften wohl so etwas wie die Reiseleiter sein, und was ganz wichtig ist: Es gibt keine Kinder, die auf die Dauer ziemlich nervend werden könnten. Ganz im Gegenteil: Als Paolo wenig später um die Ecke schlenderte, kann Gino an seinem betont lockeren Gang schon erkennen, dass auch er die gutaussehenden Mädchen schon bemerkt hat, die in dem kleineren der beiden Zelte eingezogen sind. Und es dauerte gar nicht lang, da sitzen Gino und Paolo einmütig am Strand nebeneinander, bei ihnen Franz und Peter, Barbara und Bettina aus Wien. Paolo erklärt geduldig: „Peter heißt Pietre bei uns.“ Und Gino hörte sich sagen: „Also das hier“, und dabei wiegt er einen der wenigen Steine dieses unendlich langen Sandstrands in der Hand, „das ist ein pietra. - Wirklich, ihr müsst unbedingt Italienisch lernen. Ich bringe euch das bei.“

Die ersten Tage vergehen rasch, die Gruppe hat sich längst eingewöhnt und so etwas wie eine Routine macht sich unter den Lagerteilnehmern und ihren Gastgebern bemerkbar. Gekocht und gegessen wird vor den Zelten. Ein Küchendienst ist installiert und nach dem gemeinsamen Mahl wäscht immer jemand anders das Geschirr ab. Nur die Sanitäranlagen entpuppen sich immer wieder als Sorgenkinder. Schon die Toiletten sind für manche gewöhnungs-bedürftig, handelt es sich doch um südeuropäische Steh-Klosetts. Statt einer Muschel mit Brille gibt es nur eine flache Tasse, die fast an eine Duschtasse erinnert, nur mit dem großen Unterschied, dass sich in der Mitte ein kleines Loch befindet, das man beim „Geschäft“ tunlichst treffen sollte. Übung macht den Meister und eigentlich sind diese Toiletten ja viel hygienischer und leichter zu reinigen. Für zwischendurch sind auch alle recht zufrieden damit, aber des Abends nützen die meisten dann doch den Besuch in bei Paolos Mama: Dort funktioniert alles wie daheim. Aber wenn sich die Geschäfte nicht bis zum Abend verschieben lassen, so huscht man halt auch untertags kurz hinüber und bestellt, quasi als Alibi, ein kleines Bier oder eine Cola.

Deutlich lästiger sind da schon die Probleme mit dem Wasser. Während der heißen Mittagszeit kann in Süditalien schon einmal das Wasser ausfallen – wer keine Vorräte angelegt hat, kann weder Saft anmachen oder Hände waschen, noch Geschirr spülen – und die Situation auf den Toiletten verbessert sich dadurch auch nicht gerade. Ist am Nachmittag dann endlich wieder Wasser verfügbar, so entpuppt es sich als weise, den Strandaufenthalt lieber etwas früher mit der abendlichen Dusche zu beenden. Warmwasser ist nur sehr begrenzt vorhanden, den Letzten beißen also nicht die Hunde, sondern den letzten beißt das kalte Wasser auf der salzigen Haut.

Gino und Paolo engagieren sich heuer ganz besonders in der Gästebetreuung. Jeden Abend verlassen die Mädchen und Burschen der Wiener Gruppe nach und nach den Lagerplatz und lassen die Erwachsenen mit einer Hand voll „Getreuer“ dort zurück. Und nach und nach tröpfeln sie alle bei Paolos Mama ein. Gino und Paolo sind immer mit dabei. Die Mädchen aus der Ortschaft haben es da schon bedeutend schwerer. Maria und Antonia möchten des Abends mitkommen, also muss Paolo sie abholen. Ihrem Papa muss er dann glaubwürdig versprechen, sie zu ausgemachter Stunde wieder gesund und unversehrt zuhause abzuliefern. Italienisches Klischee?

 

Gemeinsam wird getrunken, gelacht und gesungen. Und irgendwann erweicht sich das Herz von Paolos Mama und sie bringt zwei große Teller mit Pizzastücken aus der Küche – für Paolos Freunde, und weil’s ja sowieso übrig geblieben sind. Und als ob sie schon seit Tagen nichts zu essen bekommen hätten, fallen die Halbwüchsigen über die Pizzaberge her und vertilgen die großzügig belegten Teigecken Blechweise. Nur einmal wird die fröhliche Stimmung kurzfristig unterbrochen. Peter will Wein einschenken und kippt dabei die Flasche statt wie üblich nach vorne, über den Handrücken. Gino fällt ihm in die Bewegung und nimmt ihm die Flasche weg. „Mach das nicht, nicht hier.“ Und als er die befremdeten Blicke der anderen spürt, fügt er etwas verlegen hinzu: „Das hat hier so etwas wie Symbolcharakter. Wenn das jemand sieht, könntest du Ärger bekommen. Du bist hier in Kalabrien. Was du tagsüber gleich gegenüber auf der anderen Seite des Meeres siehst, das ist Sizilien.“ Italienisches Klischee.

 

Zu vorgerückter Stunde bringt dann Paolo Maria und Antonia nach Hause und anschließend begleitet er – ganz gegen die Intension seiner Mama – mit Gino die Gäste aus Österreich an den nächtlichen Strand. Gemeinsam bestaunen sie den Sternenhimmel. Vereinzelt flackern kleine Lichter über dem Wasserspiegel – es sind die Lampen der Fischer, die hier ganz nach alter Sitte und Tradition im Dunkeln hinausgerudert sind. Gino nimmt die Gitarre zur Hand. Zur Zeit ist gerade ein Schlager in Italien sehr populär, den singt er jetzt: „Lasciate mi cantare“ – „Lass mich singen auf meiner Gitarre, lass mich singen, sei ruhig und höre mich …” Sie sitzen im Sand, ganz ruhig, folgen mit ihren Blicken den Lichtern am Meer und hören ihn – die Burschen, und ganz besonders die Mädchen. Verstohlen fasst Bettina Franz an der Hand. Und irgendwie fühlt sie einen warmen Blick im Rücken. Aber Franz sitzt doch neben ihr...?

 

Tags darauf gesellt sich Gino schon am Nachmittag zu den Urlaubern. Wie zufällig kommen sie auf die vorangegangene Nacht zu sprechen – den Himmel, die Sterne, den untergehenden Mond. Und schließlich auf den Wein. „Gibt es hier viele solcher Regeln? Das hört sich ja nicht ganz ungefährlich an.“ Doch Gino winkt ab. Auf diesem Campingplatz muss sich niemand Sorgen machen. Dem capo sei ihr Schutz schon etwas wert. Die Jugendlichen werfen sich verstohlene Blicke zu. Halblaut diskutieren sie, wie das nun gemeint sei. In der Luft liegt eine eigenartige Spannung. Jeder meint, die Antwort zu kennen, aber keiner wagt es, die Dinge beim Namen zu nennen. Und die jungen Leute kommen sich wichtig vor, sehr wichtig...

 

Bettina steht auf, um sich die Sonnencreme aus dem Zelt zu holen. Auch Gino erhebt sich langsam und folgt ihr. Bettina spürt seinen warmen Blick im Nacken. Als sie sich umwendet und ihm verwirrt ins Gesicht blickt, wirkt er beschämt, fast schüchtern. Wie ein leiser Hauch kommt es über seine Lippen: „Du bist hübsch, sehr hübsch.“ Das Mädchen errötet. Angeblich soll der Charme in Wien ja geradezu zuhause sein, aber daheim hat sie noch nie ein solches Kompliment bekommen. Jetzt nimmt Gino seinen ganzen Mut zusammen und flüstert leise: „Ti amor“. Bettina starrt ihn bestürzt an, dann läuft sie zu den anderen an den Strand. 

Lange noch sitzen die Freunde am Strand. Abends holt Gino wieder seine Gitarre hervor. Zärtlich streicht Franz seiner Bettina durchs Haar. Im Schutz der Dunkelheit schmiegt sie sich eng an ihn. Nur der Mond kann es sehen. „Lasciate mi cantare“, klingt leise die Melodie durch die Nacht. Ginos Stimme hört sich irgendwie wehmütig an.


Alles nur italienische Klischees!

 

Nach vier langen Wochen kommen die Jugendlichen wieder nach Hause. Den Eltern erzählen sie, dass die Gerüchte über Italien gar nicht wahr seien – keine Gigolos weit und breit und von wegen, dort werde so viel gestohlen: Am Campingplatz hätte man alles offen liegen lassen können, vom Badetuch bis zur unverschlossenen Geldkassette – irgendwie hätte der Capo für Schutz gesorgt. Nur der Mondschein am Sandstrand bleibt ihr kleines Geheimnis. Es war ein wunderschöner, sorgenfreier Sommer.

 

Wenn man über die Autobahn vom Flughafen Palermo in Richtung Stadt fährt, sieht man irgendwann einen großen, roten Farbfleck. An dieser Stelle starben am 23. Mai 1992 der Jurist Giovanni Falcone, seine Frau und drei seiner Leibwächter, von einer Bombe der Mafia zerfetzte. Offensichtlich war er der Organisation zu gefährlich geworden.

Wenn ich den Radio aufdrehe, höre ich manchmal den italienischen Schlager „Lasciate mi cantare“. Vielleicht hatte Gino die Melodie dieses Gassenhauers auf den Lippen, als er im Frühling 1992 auf offener Straße erschossen wurde, von hinten und bei hellem Tageslicht. Vielleicht hatte er ja nur die Weinflasche beim Einschenken falsch gehalten.

© Eva Kohl 2005