Herbergssuche im Hochsommer

Fulms im Heidiland
Fulms im Heidiland

Es war ein ziemlich verregneter Sommer im Jahr 2005. Erst am Vortrag war wieder ein heftiges Gewitter nieder gegangen. Doch heute schien schon den ganzen Tag über die Sonne, fast konnte man von brütender Hitze sprechen – sofern es im Schweizer Heidiland überhaupt eine solche geben konnte.

 

Maria war schon seit dem frühen Morgen unterwegs. Das Gewitter der letzten Nacht hatte sie unter dem Flugdach eines Fahrradabstellplatzes überstanden, doch lange schon bevor der erste Bäcker in der nahen Stadt seine Türen für die Kundschaft geöffnet hatte, war sie vom Sicherheitsdienst von dort vertrieben worden. Seither war sie viele Stunden zu Fuß unterwegs, abgesehen von einer kurzen Unterbrechung zur Mittagszeit.

Jetzt war Maria müde, die Beine wurden immer schwerer und endlich begab sie sich auf die Suche nach einer Bleibe für die Nacht. Noch einmal im Freien zu schlafen wollte sie vermeiden – einerseits, weil sie sich gerne wieder einmal etwas erfrischen wollte, andererseits war ihr eine weitere Nacht unter freiem Himmel angesichts der ständig wechselnden Wetterlage etwas zu unsicher und das Campieren war in der Schweiz sowieso verboten. So ging sie durch die Straßen der Bezirkshauptstadt und ließ den Blick schweifen auf der Suche nach einem günstigen Hotel oder einer Privatpension. Endlich erspähte sie ein Wirtshaus, das auch Zimmer anbot. Hoffnungsvoll betrat sie den Gastraum, wurde vorstellig an der Theke und brachte ihr Begehr vor. Ja, freie Zimmer gab es wohl noch, doch die Preise lagen in einer Größenordnung, die in Wien nur von renommierten Hotels verlangt wurde. Enttäuscht verließ sie die Stube wieder und setzte ihre Suche fort.

Die Zeit verging, der kleine Zeiger der Uhr bewegte sich stetig nach unten zu, doch Zimmer hatte sie immer noch keines finden können. Die Hotels verlangten viel zu hohe Nächtigungsgebühren oder waren sowieso voll belegt, Privatpensionen gab es hier scheinbar keine und das einzige Hinweisschild zu einem Bauernhof, der das so genannte „Schlafen im Stroh“ - eine kostengünstige Nächtigung im Heu oder Stroh, im mitgebrachten Schlafsack, aber mit Verfügbarkeit aller nötigen Sanitäranlagen, anbot - war mit dem kleinen Hinweis versehen, der Bauernhof befinde sich nur wenige Kilometer vom Ort des Schildes entfernt. Wenige Kilometer bedeuteten einige Stunden zu Fuß, also keine realistische Möglichkeit für Maria, bald eine Bleibe zu finden.

Schon war sie dabei, die Stadt wieder zu verlassen, eben wanderte sie an den letzten Häusern des Provinz-Nests vorbei. Ein evangelisches Pfarrhaus lies noch einmal einen Hoffnungsschimmer in ihr aufkeimen, Vielleicht gewährte ihr der örtliche Pastor ja, im Pfarrsaal auf dem Fußboden ihre Liegematte auszubreiten. Doch Kirche wie Pfarrheim waren fest verschlossen, auch auf das Läuten der Türglocke reagierte niemand – scheinbar waren auch die Heiligen und ihre Stellvertreter auf Erden gerade auf Urlaub.

Die nächste Ortschaft war Heiligenkreuz. Der Name lies fast schon so etwas wie Heimatgefühl bei Maria aufkommen. Nicht, dass sie sich erinnern könnte, das österreichische Heiligenkreuz jemals besucht zu haben, aber immerhin: Es klang eben doch fast wie zuhause. Kaum hatte sie die Ortstafel passiert, gewahrte sie eine kleine Kapelle mit einem Schatten spendenden Vordach am rechten Straßenrand. Gleich hinter der Kapelle prangte an einem ebenso alten, doch hübsch hergerichteten Haus ein großes Schild mit der Aufschrift „Hotel“. Zwischen Kapelle und Beherbergungsbetrieb duckte sich der Gastgarten des letzteren. Eine dichte Weinlaube spendete Schatten, die Tische waren mit einfachen, rot karierten Tüchern bedeckt, die Sessel, ungenützt zur Zeit, lehnten an die Tische gekippt. Es schien ein einfacher Platz zu sein, der doch Wärme und Gastfreundschaft versprach. Vor dem Portal des Hotels stand eine Klapptafel, die in Kreidebuchstaben freie Zimmer zu einem moderaten Preis versprach. Voll der Freude über diese Entdeckung stürmte Maria auf die Eingangstür zu, doch hier erlebte sie abermals eine herbe Enttäuschung: An der Innenseite der verschlossenen Tür baumelte ein kleines Schildchen mit der Aufschrift „Ruhetag“. Mutlos schleppte sich Maria die wenigen Schritte zu dem alten Gotteshaus zurück und ließ sich dort in den Schatten sinken.

Da war sie nun, müde, ausgelaugt, die Beine schmerzten und ihr Gefühl sagte ihr, dass das, was an der linken Ferse so eigenartig brannte, wohl eine große Blase sein musste. War es unmöglich, in der Schweiz Urlaub zu machen, ohne dabei auch gleich eine große Summe Geldes in Beherbergungsbetrieben zurück zu lassen? Sie war doch am Muschelweg, einem kurzen Teilabschnitt des Jakobswegs, unterwegs - auf einer klassischen Pilgerstrecke musste es doch irgendeine Möglichkeit geben, auch ohne große Investitionen legal zu nächtigen? Ohne die Möglichkeit, sich mit einem Begleiter auszutauschen, blieb sie mit ihren Gedanken alleine. Eigentlich war es nur ihr Sturschädel, der sie bisher noch nicht hatte aufgeben lassen und der sie nun zwang, nach einer anderen Lösung zu suchen.

Nach einer kurzen, doch erholsamen Pause hatte sie die rettende Idee: Wenn sie bisher kein „Schlafen-im-Stroh“ gefunden hatte, so lag das vielleicht weniger daran, dass die Bauern hier nicht bereit wären, Gäste zu beherbergen, als vielmehr an der Tatsache, dass sie bisher gar nicht auf diese Idee gekommen waren. Sie musste also einfach nur einen Landwirt finden und von ihrem Einfall überzeugen, dann konnte sie auch sein erster Gast werden.

Kaum war das Vorhaben geboren, schwang Maria auch schon ihren großen Rucksack auf den Rücken und wandte sich den Häusern der Ortschaft zu. Und wirklich erspähte sie bald schon ein Pferd, das seinen Kopf über den Verschlag der Koppel streckte. Hier also wohnte „ihr“ Bauer. Als sie eben den Platz vor der Scheune betrat, rollte ein Auto auf den Hof zu und bremste neben ihr. Eine junge Frau streckte den Kopf aus dem Fenster des Wagens „Suchen Sie etwas?“ – die Frage klang teils freundlich, teils misstrauisch. Ja, den Bauern suche sie, antwortete Maria. Nun, was sie denn wolle? Ach, so sah also ein moderner Bauer in der Schweiz aus – eigentlich hatte sie sich den anders vorgestellt, als Abbild des Alpöhi aus dem Zeichentrickfilm vielleicht, aber natürlich waren die Menschen auch in der Schweiz nicht im Mittelalter – oder aber eben im vorigen Jahrhundert - stecken geblieben. Also bat Maria höflich, ob sie diese Nacht im Stroh der Scheune schlafen dürfe, und als sie den überraschten Blick der Bäuerin sah, fügte sie rasch hinzu: „Wenn das Wetter so schön bleibt, würde ich mit ihrer Erlaubnis auch gerne auf der Koppel bleiben. Aber wenn es zu regnen beginnt, wäre es schon fein, wenn ich irgendwo unter ein Dach dürfte.“

Die junge Frau und der Mann an ihrer Seite berieten sich kurz. Dann stellte er den Motor ab, beide öffneten den Wagenschlag und traten ans Freie. Also, irgendwie sei die Idee recht ungewöhnlich, und auf der Koppel, deren Grasnarbe von den ständigen Tritten der Pferdehufe völlig zerstört sei und nun in weiten Bereichen den blanken, matschigen Erdboden preisgebe, könne sie unmöglich ihr Lager aufschlagen. Aber das Wohnhaus sei gleich nebenan und wenn sie gerne möchte, könne sie es sich auf der Wiese des Vorgartens bequem machen. Und was das Regenwetter anbelangt, na ja, da wären sie noch am Überlegen …

Maria war überglücklich, Liegematte und Schlafsack vor den Fenstern des Wohnhauses ausbreiten zu können. Der Platz war ruhig und grün und von der Straße aus wenig einsichtig. Ihre Gastgeber besaßen zwar dieses eine Pferd, waren aber gleichwohl keine Landwirte. Vielmehr war Robert, der Herr des Hauses, der örtliche Tischler, die Gattin Blumenhändlerin, doch zurzeit mit dem neugeborenen Sohn in Karenz. Die Werkstätte, in der auch der Schwager tätig war, befand sich im Erdgeschoß des Doppelhauses, das von den beiden Brüdern und ihren Familien bewohnt wurde. Die Toilette der Werkstätte wurde Maria als solche angeboten, aber auch, um sich dort waschen zu können; die Tür zur Werkstätte sollte diese Nacht ausnahmsweise offen bleiben, um bei einem eventuell losbrechenden Unwetter Schutz vor dem Regen zu bieten.

Als der Abend hereinbrach, trat die Hausherrin vor das Gebäude und lud Maria auf einen Kaffee oder ein Glas Wein auf die Dachterrasse ein. Die beiden Familien, die das Haus bewohnten, hatten sich bereits eingefunden, andere Verwandte gesellten sich wenig später dazu. So saß Maria inmitten der Schweizer Großfamilie. Sie beobachtete den etwa vierjährigen Sohn Roberts Bruder, der im Laufe des Abends von einem Schoß auf den anderen wanderte. Einmal lief er an ihr vorbei und zwickte sie in den Arm – der schüchterne Versuch eines Kleinkinds, einer Fremden seine Neugierde und Sympathie auszudrücken. Von Zeit zu Zeit wurden Gesprächsteile für sie aus dem „Schwyzer Deutsch" ins Hochdeutsch übersetzt. Sonst floss die Wortmelodie an ihr vorbei wie ein unbekanntes Lied.

Wenn Maria die Stimme Roberts hörte und die große Familie ins heftige Gespräch vertieft sah, verlor sich ihr Blick manchmal in der weiten Ferne der Vergangenheit. Sie sah wieder ihren Cousin Robert und dessen Bruder Thomas, deren Eltern - ihre Tante und ihren Onkel, die gemeinsame Großtante und schließlich ihre eigenen Eltern und Geschwister um den großen Gartentisch auf der Terrasse vereint. Oft war das Gespräch freundlich, manchmal auch heftig und von Meinungsverschiedenheiten geprägt, doch immer war es das Gespräch einer Gemeinschaft, und immer war sie auf dem Schoß eines jeden am Tisch willkommen. Sie erinnerte sich an die wilden „Gatsch-Schlachten“ auf der Gstetten, an die Kartenpartien mit der Großtante und die Ballspiele mit den Cousins – und an die eingeschossenen Fensterscheiben und geköpften Beerensträucher. In ihrer Erinnerung spürte sie die Sonne des Sommers und die Vertrautheit der Familie. Man sagt immer, die Freunde könne man sich aussuchen, die Familie aber nicht – vielleicht ist es nicht so wichtig, ob die Familie „ausgesucht“, „passend“ oder gar „ideal“ ist. Vielleicht ist es viel wichtiger, dass sie sich trotz aller Unterschiede und Verschiedenheiten zusammengehörig weiß. Vielleicht ist es die Selbstverständlichkeit des Miteinanders, die die Kinder in der Familie Roberts und seines Bruders erleben, die das Zusammenleben so schön macht.

 

Als Maria sich am nächsten Tag beim Frühstück verabschiedete, bedankte sie sich mit einem Stück Käse, das sie in ihrem Proviant gefunden hatte. Geld hier zu lassen, wäre ihr banal, fast schmutzig vorgekommen. Den Käse zum Frühstück mitzubringen war nicht viel, aber es war alles, was sie noch einstecken hatte - alles, was sie geben konnte für jene Erinnerung, die ihr den vergangenen Abend so reich erscheinen ließ.

 

© Eva Kohl 2005