Ein Geschenk

Es war eine lange, aufregende Reise. Im Reisegepäck nehme ich viele neue Gesichter, viele interessante Gespräche und jede Menge Erinnerungen mit heim. Jetzt sitze ich im Zug. Draußen ist es dunkel. Im Gang brennt die Nachtbeleuchtung. Ich drücke mich in die Sitzpolster und mache es mir quer über zwei Plätze des Großraumwaggons so bequem, wie es nur irgendwie geht. Vor den geschlossenen Augen lasse ich die Geschehnisse der letzten Tage und Wochen Revue passieren, und versuche dabei, den verschiedenen Eindrücken eine erste Ordnung zu verleihen. Das war also der letzte Abend am Urlaubsort; diesen letzten Tag habe ich alleine in den Straßen jener historischen Stadt verbracht, mein Gepäck am Rücken und die Sonne im Gesicht... Die Bilder werden sanfter, verlieren an Konturen und beginnen langsam, ineinander über zu gehen. Und irgendwann ist da nur noch ein Traum ... Was ist das für ein Lärm? Anfangs vernehme ich nur eine rüde Klangwolke, ein paar Wortfetzen, die zwei Menschen einander an den Kopf werfen. In mir regt sich heftiger Protest. Wer kann so rücksichtslos sein, mein Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf dermaßen mit Füßen zu treten? Im ersten Moment denke ich an einige, vielleicht zu gut gelaunte Jugendliche, ein paar übergebliebene Fußballfans vom Vortag. Oder vielleicht handelt es sich ja um eine Handvoll Hooligans, mit Bierdosen und dem obligatorischen jungen Schäferhund an der Leine? Sekundenschnell sitze ich aufrecht da, lehne mich sogar in den Gang, um die Unruhequelle ausfindig zu machen. Was ich sehe, gleicht fast einer Karikatur aus der Sonntagspresse: Eine kleine, zarte Frau in Uniform eilt den Gang entlang, dicht gefolgt von einem Mann, dessen Aussehen man bösartiger Weise mit dem einer herbstlichen Vogelscheuche in den Traubenhängen des Weinviertels vergleichen könnte. Trotzdem ist mir nicht zu lachen zumute. Ich kann die Aggression und die Hilflosigkeit in der Luft förmlich mit Händen greifen. Eine wirklich explosive Mischung. Doch schon nach wenigen Augenblicken haben beide den Waggon gequert und sind den Blicken der verdutzt dreinschauenden Fahrgäste entschwunden. Nur gedämpft hört man aus dem Nachbarwagen noch die aufgeregten Stimmen. Eigentlich habe ich gute Lust, mich einfach wieder zur Seite zu drehen und noch eine Runde zu dösen. Aber irgendwie geht das nicht mehr. „Warum gibst du mir keine Karte?“ Das war doch die Frage des Sandlers. Ja, warum eigentlich nicht? Ich bin froh, dass der Mann weg ist. So unordentlich, heruntergekommen, so laut – der macht sicher jede Menge Ärger, wenn man den im Abteil hat. Und sicher stinkt der auch ganz fürchterlich – nach Alkohol, oder nach Schweiß und ungewaschenem Gewand. Aber warum bekommt er keine Karte? Haben die ÖBB Bekleidungsvorschriften? Nur, weil er der Schaffnerin nicht zu Gesicht steht, kann sie ihm doch nicht einfach den Fahrausweis verweigern. Also, bei aller Antipathie dem Typen gegenüber, aber was sein muss, muss sein. Entgegen allen primären Impulsen fühle ich mich verpflichtet, hier nicht einfach tatenlos zuzusehen. Wenn ich ein paar Wochen auf der Straße lebe, dann schaue ich vielleicht auch nicht besser aus. Und habe ich deswegen schon alle Rechte verloren? Etwa das Recht auf menschlichen Beistand? Ich merke, dass ich innerlich bebe, der Zwiespalt der Gefühle macht mich zittern. Ich zwinge mich zu ruhigen Bewegungen. „Können sie bitte kurz nach meinen Sachen sehen?“ – der Fahrgast vis a vis erklärt sich mit einem kurzen Kopfnicken dazu bereit. Seinem erleichterten Gesichtsausdruck entnehme ich, dass ich ihn durch meine Aktivität von einer lästigen Verpflichtung befreie. Gemessenen Schrittes folge ich dem seltsamen Paar in den Nachbarwaggon. Der nächste Wagen ist ein Abteilwaggon. Als ich die Zugtür in den Gang öffne, hat sich der Penner gerade laut schimpfend vor dem Dienstabteil aufgebaut. Ich zwänge mich an ihm vorbei, hinein zur Zugbegleiterin. Die Gestalt des Mannes nimmt immer mehr bedrohenden Charakter an, auch die verbalen Äußerungen werden immer deftiger. Und immer wieder kommt die Frage „warum gibst du mir keine Karte“. Ich kann gerade noch verhindern, dass er nachdrängt ins Abteil. Ich bedeute ihm, ruhig zu werden, mir ein wenig Zeit zu geben. Dann schließe ich die Tür. Die junge Frau sitzt zitternd vor mir. In einer Hand hält sie ihr Diensthandy, offensichtlich ist sie bereit, den Notruf zu alarmieren. Mit der anderen Hand klammert sie sich an eine Dose Pfefferspray. Sie zittert. „Der hat mich bedroht, das kann ich mir doch nicht gefallen lassen“ stößt sie gleichsam wie eine Entschuldigung hervor. Und nur langsam kann ich die ganze Geschichte erfahren: Der Stromer war ohne Fahrkarte eingestiegen, was an sich kein Verbrechen ist. Allerdings hat er auch kein Geld dabei, um ein Ticket zu kaufen, kann sich nicht ausweisen und auch keine gültige Wohnadresse für eine Verrechnung per Zahlschein angeben. Da er den Zug aber trotzdem nicht bei der nächsten Station verlassen will, hat ihm die Bahnbeamte mit der Polizei gedroht. Und genau da sind bei dem Mann, der schon lange die Grenzen unserer Gesellschaft verlassen hat, die Lichter durchgebrannt. Er wurde ausfällig, begann die Frau zu beschimpfen, die doch nur ihre Pflicht tut, und immer mehr Drohgebärde anzunehmen. Allein das Wort „Polizei“ ist für ihn eine Bedrohung und diese Bedrohung spiegelt er wieder. Eigentlich bin ich gekommen, die scheinbar verletzten Rechte eines Außenseiters zu verteidigen. Eigentlich bin ich gekommen, von dieser Uniformierten Gerechtigkeit einzufordern. Nun ist es meine Anwesenheit, welche der jungen Frau das Gefühl gibt, in ihrer Entscheidung nicht allein zu sein. Als ich sie nach dem Preis einer Fahrkarte frage, lächelt sie mich unsicher an. „Wollen sie das wirklich tun.“ „Ich weiß nicht genau, ich glaube schon. Aber fragen sie mich bitte nicht, warum. Das weiß ich nun ganz sicher nicht.“ Und insgeheim bin ich froh, dass nur sie mich fragt, dass ich nicht persönlich mit dem Landstreicher sprechen muss. Kurz überlegt sie, dann lächelt sie wieder. „Naja, vor der nächsten Station kann ja keiner kontrollieren.“ Und während sie die Fahrkarte ausstellt, erzählt sie, dass der letzte Fahrgast, den sie ohne Fahrausweis mitgenommen hat, im Zug eine Schlägerei angefangen hatte – jetzt darf sie so etwas nicht nochmals übersehen, das würde sie den Job kosten. Aber wenn ein anderer Fahrgast ihm die Karte schenkt,... „Und dann bin ich auch ziemlich sicher, dass ich bei ihm eine Halbpreiskarte gesehen hab´, Sie nicht auch?“ Verschmitzt zwinkert sie mir zu. Nur einen Moment lang wird sie noch verlegen. „Aber die Karte, können sie ihm die bitte geben? Ich mag nicht nochmals mit ihm reden.“ Also doch ich, na ja, auch in Ordnung. Während ich aufstehe und das Abteil verlasse, gleitet endlich die Hand mit dem Pfefferspray in die Tasche zurück. Am schmalen Gang des Waggons, nur unweit des Dienstabteils, steht der Streuner und wartet auf eine ungewisse Zukunft. Unsicher blickt er mich an. Unbeholfen strecke ich ihm die Fahrkarte entgegen – ich bin mindestens so unsicher wie er – und dann beherrscht mich nur noch ein Gedanke: Nichts wie weg aus seiner Reichweite. „Hast du mir das bezahlt?“ Wir hätten gemeinsam versucht, eine Lösung zu finden, wie er seinen Weg nach Wien fortsetzen kann – und das sei sie nun, die Lösung. „Dank dir, das ist aber lieb von dir!“ Die Dankbarkeit klingt ehrlich. Leider merke ich auch, wie er sich aus lauter Dankbarkeit an meine Fersen heftet. Die Schaffnerin ist vergessen, einige wenige böse Worte über die Frau zischt er noch in seinen Bart und meine Beteuerungen, dass es eine gemeinsame Lösung sei und wir beide ihm geholfen hätten, will er erst gar nicht hören, aber insgesamt hat diese Frau für ihn an Bedeutung verloren. Bedeutung hat nur, dass er jetzt nach Wien fahren darf, ganz offiziell, und dass scheinbar ich dafür verantwortlich bin. Als ich wieder meinen Platz erreiche, entschließt er sich, die Parfum-Wolke seines miefigen Gewandes am Nebensitz zu zentrieren. Gott gefällig ergebe ich mich in mein Schicksal – Wien kann ja hoffentlich nicht mehr weit sein. Dann passiert etwas ganz eigenartiges, denn nach und nach erfahre ich aus seinem Leben: Die Kindheit im tiefsten Burgenland; der Vater, ein rechtschaffener Bauer, der seine Söhne zu ebensolchen erziehen wollte; das Verbot, Bücher zu lesen, weil sie von der Feldarbeit abhalten und die wenigen, kostbaren Momente, wenn man heimlich in dem Abenteuerroman blättern konnte, der versteckt auf dem Heuschober lag; der Wunsch, Mechaniker zu werden, was mit des Vaters Vorstellungen leider nicht vereinbar war; die Flucht aus des Vaters Druck und die Lehrausbildung zum Spengler und Kunstspengler; dann die Jahre des Abenteuers als UNO-Soldat auf den Golanhöhen, wo er kein einziges Mal zur Waffe greifen musste, war er doch bis zum Ende seiner Dienstzeit mit den Spenglerarbeiten der Unterkünfte beschäftigt; die wilde Zeit Anfang der Siebziger in Indien; und dann irgendwann die Heimkehr, die Frau, der immer alles zu gering war, obwohl er sie doch so gerne zufrieden gestellt hätte; die Jahre als Fernfahrer, dann die Arbeitslosigkeit, die Trennung, die Obdachlosigkeit. Wild durcheinander purzeln die Bilder seiner Erinnerung aus ihm heraus und fügen sich zusammen zur bunten Collage eines Menschenlebens mit seinen Hochs und Tiefs, so wild und bunt, wie sein Aussehen. Wie den Schmutz der letzten Tage in Graz, so trägt er auch noch die Spuren seiner Jahre mit sich – in seiner Erinnerung, in die er mir langsam Schritt für Schritt Eintritt gewährt. Langsam und vorsichtig, ist dieser Garten der Seele doch das letzte Stück Menschenwürde, das ihm noch geblieben ist. Jetzt, dieser Tage sieht das Leben anders aus für ihn. Er wohnt in einem Abbruchhaus im zehnten Bezirk, das er mit anderen Obdachlosen gemeinsam besetzt hat. Ohne offiziellen Wohnsitz, ohne Arbeit, ohne Papiere, ohne realen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Wenn er heute oder morgen einfach verschwunden wäre, würde es wohl niemandem auffallen, außer vielleicht seinen Nachbarn im Abbruchhaus, aber wer würde deren Suche schon beachten. 

Müßiggang auf einer Parkbank in Cluj
Müßiggang auf einer Parkbank in Cluj

Was da passiert ist, lässt sich mit Worten kaum beschreiben. Der Mann, dem ich eine Fahrkarte geschenkt habe, der hat mir dafür Einblick in seine Erinnerungen und seine Träume gewährt. Kurz vor Wien passieren wir ein Stück Einsamkeit. Vom Zugfenster aus kann man die Felder vorbeiziehen sehen. Das Getreide steht hoch ihm Korn. Und mitten in dieser Einsamkeit duckt sich ein kleines Häuschen zwischen die Halme, etwas heruntergekommen, wie ein vergessener Schatz. Ich denke bei mir: „So ein kleines Stückchen Glück, das wäre wohl mein Traum.“ „So ein kleines Stückchen Glück, das wäre immer mein Traum gewesen“ höre ich ihn sagen. Wie rasch man aus so einem Häuschen ein Schmuckkästchen machen könnte, wenn man nur Hand anlege. So ein kleines Häuschen, das er herrichten und bewohnen darf, davon träumt er. Oder besser noch wäre es, wenn er einen Traktor mit einem Anhänger auftreiben könnte. Es würde keine Rolle spielen, wenn er den erst reparieren muss – freilich, Mechaniker durfte er ja nicht werden, aber da findet sich schon jemand, der ihm hilft, wenn er nur erst einen Traktor finden könnte. Und dann würde er mit dem Traktor durch ganz Europa fahren, am Anhänger könnte er schlafen, und all die Länder kennen lernen, die ihm noch fremd sind. Trunken vom Bild seiner Hoffnung und Träume entleert er den letzten Tropfen aus seiner Bierdose, drückt sie zusammen und lässt sie achtlos neben sich auf den Boden gleiten. Längst schon flüchtet mein Blick nicht mehr ins Freie, längst schon schaue ich ihm ins Gesicht und folge seinen Traumbildern. Aber irgendetwas muss sich in jenem Augenblick in meiner Mimik geändert haben. Irritiert unterbricht er seine Erzählung, „du magst das nicht, wenn ich das da herstelle?“ Kurz versuche ich, zu argumentieren, aber das ist gar nicht nötig: „Wenn du das nicht magst, dann schmeiss´ ich die Dose halt einfach weg“, sprach´s, stand auf und brachte das nutzlos gewordene Alugebinde zum Mülleimer. Der Mann, dem ich so generös ein paar Euro geschenkt habe, der hat mir Vertrauen und Achtung geschenkt. Wie viel Euro die wohl wert sind?!

© Eva Kohl 2005