Die Sehnsucht nach Wärme

Wien - eine Millionenstadt: Blick vom Riesenrad auf den 2., 21. und 22. Wiener Gemeindebezirk
Wien - eine Millionenstadt: Blick vom Riesenrad auf den 2., 21. und 22. Wiener Gemeindebezirk

Wien hat 1,6Millionen Einwohner - 1.558.100 um genau zu sein. Natürlich verteilt sich diese Anzahl bei einer Fläche von über 400km² recht gut, aber es leben hier doch trotzdem sehr viele Menschen auf einem engen Bereich! Im Vergleich dazu ist Niederösterreich geradezu ein Gebiet der Streusiedlungen: Kreuzstetten hat, Nieder- und Oberkreuzstetten zusammengezogen und Steifing mit eingerechnet, nicht mehr als 1499 Einwohner. Und doch gibt es in Kreuzstetten innerhalb des Wohngebietes wohl kaum einen Platz, an dem man nicht von irgendjemandem gesehen oder gehört würde. Aber „Wien ist anders“ – wie uns ja schon diverse Werbeplakate am Stadtrand prognostizieren. Speziell im Sommer, in den Ferienmonaten Juli und August, hat man manchmal das Gefühl, als sei die Stadt geradezu ausgestorben. Und tatsächlich ist schon ab Juni und bis Mitte oder Ende September ein nicht unerheblicher Anteil der Bevölkerung nicht in heimatlichen Gefilden anzutreffen. Die Wiener sind auf Urlaub. Sommerfrische hat man das früher genannt, aber so traditionell und altbacken darf es heute ja nicht mehr sein. Alle wollen möglichst weit weg – manche möchten Abenteuer erleben, andere würden gerne etwas Neues kennen lernen – solange das geliebte „Schnitzerl“ verfügbar ist, stellen die Wiener auch in der Fremde ein ganz umgängliches und offenes Völkchen dar – und so lange sie es sind, die die Fremde besuchen und die Fremden sich nicht erlauben, dann auch gleich nach Wien zu kommen. Aber das ist eine andere Geschichte. – Was die Wiener Seele aber vielleicht am meisten dazu bewegt, alljährlich die Koffer zu packen und stundenlange Reisewege in Kauf zu nehmen, das ist die Sehnsucht nach Wärme. Im sonnigen Süden, den Sand zwischen den Zehen und auf der Haut nichts als 10cm² Bikini-Stoff und eine dicke Schicht Sonnenöl mit Kokosgeruch, belagern sie die Strände Bibiones und Caorles und neuerdings sogar in der Karibik. Je dunkler die sonnengebräunte Haut, wenn man nach Hause kommt, desto erfolgreicher war der Urlaub, desto mehr Sonne und – Wärme.

 

Irgendwie war sie mit ihren rund vierzig Jahren noch immer ein ganz schön verrücktes Huhn. Knallenge Hosen und hohe Schuhe, ein Stirnband umfing ihr Haupt, die wilde Mähne wallte über ihre Schultern, und die Augen funkelten voll Energie und Wärme. Sie war aufmüpfig gegen das Leben. In ihrer Person verkörperte sie die Rebellion der 60er Jahre.

Einst war sie auf dem Weg zur Schauspielerin gewesen. Sie wollte nach oben, ganz nach oben. Das Reinhardseminar war ihr erster Schritt. Aber dann hatte sie ihn kennen gelernt, ihre große Liebe. Wie war sie damals auf Wolken geschwebt, wie wohl hatte sie sich in seinen Armen gefühlt. Er war so ganz anders, so ruhig, zurückhaltend. Er konnte ihr so viel Sicherheit und Wärme geben. Und wie sehr hatte sie damals gebangt, er könnte sich in ein anderes Mädchen verlieben, sie könnte ihn verlieren. In stillen Stunden hatte sie sogar begonnen zu beten „Lieber Gott, ich will ihn, nur ihn“ – und später immer leicht zynisch hinzugefügt „Und was hab ich bekommen – ihn, nur ihn“. Aber immer klang noch ein Hauch der Liebe und Wärme mit, selbst noch, wenn sie spöttelte.

Tatsächlich war alles ganz anders gekommen, als sie es sich als junges Mädchen erhofft hatte. Seine Liebe konnte sie gewinnen, er hat ihr sein Herz geschenkt. Und er hat ihr auch ein Kind dazu geschenkt. Ein Kind der Liebe war es, ungeplant und ungewollt, doch durchaus willkommen und geliebt. Der Traum von der Karriere war damit freilich für beide ausgeträumt. Sie war plötzlich verantwortlich für ein Neugeborenes und er für das gemeinsame Familieneinkommen. Zeit für Ausbildung und Wolkenschlösser war da freilich keine mehr. Er hat die verschiedensten Stellen angenommen, um sich und die seinen über Wasser zu halten. Nachts war er als Taxifahrer unterwegs und abends als Platzanweiser im Theater und tagsüber – ach, wer weiß, was an Jobs er auf sich nahm, um die Familie zu ernähren. Er blieb, wie er war, ruhig, unscheinbar, aber mit einem offenen Blick auf die Seinen und ihr Leben, ihre Umgebung. Gemeinsam waren sie ein gutes Team – sie war die Energiequelle, aus der sie beide schöpften, und er schenkte die Wärme, die beide am Leben erhielt. Gemeinsam genossen sie das Leben in vollen Zügen, und wenn sie auch manchmal spottete und zynische Bemerkungen über den scheinbar erfolglosen Lauf ihres Werdens machte, so sprach doch immer seine Wärme aus ihren Augen.

Das alles änderte sich schlagartig an dem Tag, der eigentlich sein Glückstag hätte werden sollen. Schon seit langem hatte er Probleme mit dem Herzen, aber nun war endlich die rettende Operation in Sicht. Stunden harrte sie an der Klinik aus, Stunden, die sie am Gang und im Warteraum verbrachte, im Bangen um den Ausgang des Eingriffs. Als er im Aufwachraum die Augen öffnete, war sie an seiner Seite, und auch den restlichen Nachmittag wich sie nicht von seinem Bett. Als sich der Abend neigte, drückte die Müdigkeit immer mehr auf ihre Glieder. Sie wusste, dass sie nun gehen musste, sich ein wenig hinlegen und ausruhen. Er hielt ihre Hand, wollte sie nicht los lassen. Aus seinem sonst so ruhigen und sicheren Blick sprach die Angst. Nur schwer konnten sie sich trennen und nur schwer konnten sie Abschied nehmen. Eigentlich hätten sie froh sein müssen über den glücklichen Ausgang der Operation, aber irgendwie waren sie wie zwei verängstigte Kinder, denen vor dem Alleine sein bangte. Als sie die Klinik verlies, fühlte sie noch lange seine zaghafte Hand auf ihrem Arm und sah seinen ängstlichen Blick.

Am nächsten Morgen war sie alleine.

 

Die zwei Frauen waren sehr verschieden. Die eine gerade ´mal achtzehn, ein angepasstes Schulmädchen kurz vor dem Erwachsenwerden, frisch verliebt und im Moment gerade ziemlich in Eile. Acht Jungs warteten auf sie, und sie war wie immer mächtig knapp d´ran. Acht Jungs im Alter von 13-15 Jahren sehnten den Beginn ihrer Gruppenstunde herbei, und sie hatte keine Sekunde Zeit, denn sie als Gruppenleiterin war ganz sicher wieder ´mal die Letzte.

Die andere war mit ihren rund vierzig Jahren irgendwie noch immer ein ganz schön verrücktes Huhn. Knallenge Hosen und hohe Schuhe, ein Stirnband umfing ihr Haupt, die wilde Mähne wallte über ihre Schultern. Nur die Augen wirkten matt und müde und hießen ihr scheinbar energievolles und aufmüpfiges Auftreten Lügen. Und sie hatte Zeit, jede Menge Zeit, denn niemand wartete auf sie.

Bei der Begegnung begrüßten die beiden Frauen einander trotz des großen Altersunterschieds wie Freundinnen. Die Ältere begann der Jüngeren von ihrem Leben zu erzählen: von der leeren Wohnung, dem Radio, der die Stimme des Ehemanns ersetzen sollte, von der Uhr, die viel zu laut tickt im leeren Haus und von der Kälte, der gnadenlosen Kälte, die sie umfing, wenn sie alleine zuhause war. Decken, dicke Wolldecken hatte sie sich schon zurecht gelegt, aber das half alles nichts. So warm das Zimmerthermometer auch anzeige, sie vermisse doch die Wärme seiner schützenden Arme. Wie gut konnte die Jüngere sie verstehen, diese Sehnsucht nach Wärme, die kannte sie wohl auch. Doch jetzt hatte sie ihre Verpflichtungen, jetzt musste sie eilen, hatte keine Zeit über menschliche Nähe und Wärme zu sprechen.

Wärme - das ist wie ein Kessel voll heißem Eintopf in der Kälte Lapplands
Wärme - das ist wie ein Kessel voll heißem Eintopf in der Kälte Lapplands

Rückweg an der Stelle vorbei kam, war von der Älteren keine Spur mehr zu sehen. Wer würde auch über eine Stunde im Freien warten, wenn er sowieso schon friert? Es war ja auch wirklich ein Pech, dass sie ausgerechnet heute so wenig Zeit gehabt hatte. Ach, sie hätte ja auch doch nichts ändern können und sie konnte doch auch die Kinder nicht einfach warten lassen. Kinder hatten doch Vorrang, das war doch wichtiger? Warum hatten sie denn kein späteres Treffen vereinbart? Was war eigentlich wichtig im Leben? Wer hatte die Macht und das Vermögen, Prioritäten zu setzen? Wenn sie einander wieder trafen, wollte sie sich Zeit nehmen für die andere, viel Zeit.

Wenige Wochen später erfuhr sie, dass sie sie nie wieder treffen würde - nicht in dieser Welt. Sie lehnte sich an den Speicherofen und versuchte, ein wenig jener Wärme zu erhaschen, die eine dicke Wolldecke niemals geben konnte und die auch sie im entscheidenden Moment nicht zu geben fähig gewesen war.

 

Vielleicht ist es die Suche nach Wärme, die uns unser Leben lang weiter treibt.

© Eva Kohl 2009